Ein Gespräch mit Leoni Keskinkılıç. Die „Europäisierung“ rechter Nationalparteien. Narrative von dem Rassemblement national und der Alternative für Deutschland.

Leoni Keskinkılıç ist Sozialwissenschaftlerin und Ethnologin. Sie arbeitet an der Humboldt-Universität zu Berlin und forscht zu sozialer Ungleichheit, Migration, Europäisierung, Grenzregime sowie Postkolonialer und Feministischer Theorie.

Entretien mené par Morwenna Coquelin[1]

Revue Abibac : Sie interessieren sich für die Diskurse zweier rechtsextremistischer Parteien – der Alternative für Deutschland (AfD) und des Rassemblement national (RN). Wie und warum sind Sie zu diesem Thema gekommen?

L. K.: Seit die AfD nach ihrer Gründung im Jahr 2013 zunehmend Wähler*innen für sich gewinnt und 2017 mit 12,6 Prozent in den Deutschen Bundestag einzog, machte sich in weiten Teilen der Bevölkerung Entsetzen und Erstaunen breit: Wie ist das möglich? Als Sozialwissenschaftlerin und Ethnologin beschäftige ich mich mit Fragen zur Geschichte und Aktualität von Nation und Europa und welche Rolle Heterogenität und Migration darin einnehmen. Im Zuge dieser Auseinandersetzung wollte ich der Frage nachgehen, inwiefern es gar keine so große Überraschung ist, dass Parteien, die stark vereinheitlichende und hierarchisierende Verständnisse von Kultur, Religion und Nation vertreten, Zuspruch erhalten. So stellte die These auf, dass sowohl der RN als auch die AfD zunehmend gewählt werden und politikfähig sind, da ihre parteipolitischen Perspektiven nicht (ausschließlich) über rechte Randerzählungen artikuliert werden, sondern an dominanten Sicht- und Denkweisen, die tief in der Gesellschaft verankert sind, anknüpfen. Meine zweite These lautete, dass das Erstarken und die Bündnisschließung rechter Nationalparteien die Normalisierung und Durchsetzung nationalistischer Forderungen vorantreiben und das Feld des Sag- und Machbaren in ganz Europa auf dramatische Weise verschieben.

Der Vergleich der AfD mit dem RN war dann in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen ist der RN anders als die AfD keine junge Partei, sondern wurde bereits 1972 gegründet und galt damals mit offen antisemitischen, rassistischen Äußerungen und autoritären, nationalistischen Gesellschaftsbildern explizit als rechtsextremistisch. Seit Marine Le Pen an der Parteispitze ist, wird die Partei jedoch anschlussfähiger und ist ein ernstzunehmendes Beispiel dafür, wie sich eine rechtsextreme Partei einen Weg vom Rand ins Zentrum der Politik zu bahnen vermag. Der zweite interessante Aspekt ist die Kooperation zwischen der AfD und dem RN: Beide Parteien sind Gründungsmitglied der EU-Fraktion „Identität und Demokratie“ und unterstützen gegenseitig ihre politischen Visionen. Neben den Fragen nach der Anschlussfähigkeit der Parteien auf nationaler Ebene, stellte sich mir also auch die Frage, inwieweit eine „Europäisierung“ rechter Nationalparteien stattfindet und welche Konsequenzen das für ihren Handlungsspielraum hat. Es sind Fragen, die höchst relevant sind, gerade in einer Zeit, in der oft mit Ohnmacht und Uneinigkeit dabei zugeschaut wird, wie sich diese Parteien europaweit weiter etablieren.

R.A.: Die heutige Welt kennzeichnet sich durch die Macht der Bilder und durch kurze, schlagende Formeln – Twitter und viele andere schnell lesbare und leicht teilbare Medien. Das Storytelling prägt auch seit den 90er Jahren die Kommunikation. Ihre Arbeit zeigt dagegen die Wichtigkeit, die Diskurse in einen sozialen und politischen Kontext zu ordnen, sowohl als in die Geschichte der politischen Themen und Wörter. Können Sie mehr darüber erklären, besonders für unsere Schüler*innen, die künftige Wählerschaft, teilweise schon politisch engagiert?

L. K : Medien wie Twitter und Facebook sind wichtige Plattformen, um sich zu informieren, zu vernetzen, zu solidarisieren oder Widerstand zu leisten. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass die darin zirkulierenden Bilder und Wörter politische Bedeutungen haben und unterschiedliche Effekte bewirken – je nachdem, wer es verbreitet oder liest. Bilder und Wörter beeinflussen Wahrnehmungen, Vorstellungen und Handlungen. Sie können nicht nur verletzen oder bestärken, sondern auch Benachteiligung oder Bevorzugung schüren und Ungleichheit erzeugen.

Wenn die AfD und der RN beispielsweise Wahlslogans verbreiten wie „Mut zu Deutschland!“ oder „Weder rechts noch links – französisch!“, dann muss ich mir zum Beispiel als weiße Französin oder Deutsche keine Sorgen machen, dass ich nicht dazugehöre. Muslimischen Franzosen oder Deutschen stellt sich aber die Frage, welchen Platz sie in diesem Frankreich oder Deutschland bekämen, in dem sie schon jetzt mit Diskriminierung und Ausschluss zu kämpfen haben. Bilder und Wörter, die Muslim*innen und andere nicht-weiße Gesellschaftsmitglieder angreifen, können an den privilegierten Weißen leicht vorbeiziehen. Vertreter*innen der Postkolonialen Theorie wie Edward Said, Stuart Hall und Gayatri C. Spivak lehren uns dagegen, die Stimmen und Perspektiven der Marginalisierten ins Zentrum zu setzen, um über ihr Wissen die Gesellschaft verstehen zu lernen und Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu erkennen und zu überwinden. Eine Gesellschaft der Gleichheit und Gleichberechtigung mitzugestalten bedeutet also, eine Bereitschaft zu entwickeln, sich kritisch mit Bildern und Wörtern und ihrem Verhältnis zu Macht und Gewalt auseinanderzusetzen und rassistische Aussagen und Handlungen offen zu verurteilen. Und auch wenn es manchmal gar nicht so einfach erscheint, zu entschlüsseln, welche Bedeutung Wörter und Bilder transportieren sind Bemühungen, dem auf die Spur zu gehen, von existenzieller Bedeutung.

R.A.: Obwohl man spontan denken könnte, dass „Europa“ den nationalistischen Diskurs eher widerspricht, zeigen Sie, dass dieser Begriff mehr und mehr auf das Spiel gestellt wird. Wie nehmen Parteien wie die AfD oder der RN „Europa“ in Beschlag? Wie verbinden sie „Europa“ und „Nation“?

L. K: Die Nation steht klar im Vordergrund. Dennoch bekräftigen beide Partien, nicht „anti-europäisch“ zu denken. Le Pen erklärt etwa: „Ich bin Europäerin, ich glaube an […] ein Europa der Kooperation, das des Airbus und der Ariane“. Beide Parteien befürworten eine „partnerschaftliche Zusammenarbeit“, wenn um wohlstands- und wachstumsversprechenden Projekte geht. Sie sprechen sich aber gegen eine die Nation ersetzende europäische Identität aus.

Kultur, Sprache und Identität sollen „nationale Angelegenheit“ bleiben. Schauen wir aber genauer hin, stellt Europa als „Ideengemeinschaft“ durchaus einen signifikanten Referenzpunkt für ihre Kultur- und Identitätskonstruktionen dar: Sie berufen sich einerseits auf die „europäische Moderne“ und „zivilisatorischen Errungenschaften“, die Freiheit und Gleichheit hervorbrächten, und andererseits auf das Ende von Unfreiheit, Ungleichheit und Sklaverei, das das Resultat der „christlich-humanistischen Kultur der europäischen Völker“ sei, so die AfD in ihrem Wahlprogramm 2017. Und eben diese „europäischen“ Werte befinden sich laut AfD und RN heute in der Krise, bedroht durch Islam und Einwanderung. Um die Gefahren ‚von außen’ zu bekämpfen, fordern sie den Wiederaufbau von nationalen Grenzkontrollen, die drastische Einschränkung von Einwanderung und Staatsbürgerschaftsvergabe und die Ausweitung von Verboten, Kontrollen und Strafen – und das auf nationaler Ebene, aber europaweit.

Beide Parteien sichern und begrenzen also ihre nationalen „Identifikationsräume“ und ordnen sich zugleich in ein Narrativ des Europäischen ein. Sie beanspruchen, eine „Zivilisationsgeschichte“ zu repräsentieren, mit der sie ihre angestrebte kulturelle und politische Dominanz zu rechtfertigen versuchen.

R.A.: Was meint „Europa“ für diese Parteien? Welches „Europa“ bilden ihre Diskurse? Nützen sie diesen Begriff nur, um „die Anderen“ – momentan meistens die Muslim*innen – zu stigmatisieren?

L. K: Aus den Diskursen der AfD und des RN resultieren zwei wesentliche Bilder: Zum einen das Feindbild Islam und zum anderen das Idealbild Europa. Beide sind tief in historisch tradierten Wissensbeständen verankert.

Die Sozialpädagogin Iman Attia zeigt etwa in ihrem Buch „Die ‚westliche Kultur‘ und ihr Anderes“, dass sich Darstellungen des Islams als Bedrohung der Sicherheit und Kultur Europas an orientalistischen und antimuslimischen Bildern bedienen, die in die Zeit des Kolonialismus zurückgehen. Solche rassistischen Bilder werden von der AfD und dem RN genutzt und so kulturell und religiös umgedeutet, dass Stigmatisierungen und Ausschlüsse von Muslim*innen legitim und normal erscheinen.

Dieses Europa erzeugt aber nicht nur Ab- und Ausgrenzungen, denn im Spiegel von Fremd- und Feindbildern zeigt sich auch ein bestimmtes Selbstbild: Der Philosoph David T. Goldberg skizziert in seinem Aufsatz Racial Europeanization, wie die im Kolonialismus verstrickten Europäisierungsprozesse den „Europäer“ als weiß und christlich erzeugten und den „europäischen Bürger“ per se als aufgeklärt, human, tolerant, Gleichheits- und Freiheitsstrebend definierten. Im gleichen Zuge entwickelte sich die Vorstellung, dass diese Entwicklung vom „Rest“ der Welt abgekoppelt und Europa das alleinige Zentrum des Denkens und Handelns sei. Eine Ideologie, die auch als Eurozentrismus bezeichnet wird. Wenn die AfD und der RN von den „europäischen Völkern“ und ihrer „unveränderlichen Substanz“ sprechen, verbergen sich dahinter eben solche rassistischen und eurozentrischen Ideologien.

Beide Parteien unternehmen den Versuch, sich in eine Geschichte der „Expansion“ und „Entdeckung der Welt“ einzuschreiben, in der sie sich als Heimat der „Überlegenen“, „Retter“, „Erfinder“ und „Sieger“ der Welt quasi wiederentdecken. Hierbei ist auch auf das ambivalente Verhältnis der AfD und des RN zum Judentum und zur Erinnerung an den Holocaust hinzuweisen: Denn aus der Sicht beider Parteien nehmen das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus und des Holocausts zu viel Raum in der nationalen Erinnerungskultur ein. Positive Referenzpunkte in der Geschichte würden in den Hintergrund gedrängt. Einen solchen Lichtblick finden sie wohl aber in der „europäischen Meistererzählung“ vom Fortschritt und Humanismus, die sich an Stärke und Macht orientiert.

Um ein solches ideologisch aufgeladenes Bild von Europa aufrechtzuerhalten, bedarf es wiederum impliziten und expliziten Abgrenzungen. Denn Selbst- und Fremdbild sind zutiefst voneinander abhängig: Wer ist also nicht Europäer*in und was ist nicht europäisch? Die Fremd- und Feindbilder des RN und der AfD sind flexibel und existieren gleichzeitig: Beide Parteien kulturalisieren, ethnisieren und nationalisieren Zugehörigkeit und europäisieren Werte wie Freiheit und Gleichheit auf eine Weise, dass jeglichen nicht-weißen Gesellschaftsmitgliedern wie Muslim*innen, Schwarzen, Rom*nja und Sinte*zza, Juden und Jüdinnen, keine „natürliche“ Daseinsberechtigung zukommt. Dieses Europa basiert auf einer rassifizierenden Logik, nach der Menschen aufgrund zugeschriebener kultureller und/oder religiöser Merkmale in Gruppen zusammengefasst, als nicht zugehörig erklärt und ausgeschlossen werden.

Schließlich beschwören der RN und die AfD ein Europa herauf, das durch Auslassungen und Abstraktionen auf einen einzigen Erzählstrang reduziert wird, der den Maßstab und die Bedingung von Zugehörigkeit, Kultur und Identität setzt. Dieses Europanarrativ ist insofern idealisierend und romantisierend, als dass jegliche Gewalt- und Ungleichheitsverhältnisse, migrantische Mitgestaltung, Kämpfe, Widerstände und Transformationskräfte der Vergangenheit und Gegenwart unsichtbar gemacht werden: Es verschleiert die Verbrechen Europas, die seit Beginn des Kolonialismus, des Imperialismus und der christlich motivierten Zivilisierungsmission die globale Ordnung prägen. Nicht erzählt wird, dass die europäischen Kolonialmächte über Jahrhunderte systematisch zahlreiche außereuropäische Gebiete besetzt, Menschen rassifiziert, unterdrückt, versklavt, ausgebeutet und ermordet haben und dass die Kirche eng mit der Kolonialmacht zusammenarbeitete. Auch die Tatsache, dass Europa immer schon durch Migration geprägt und von globalen Einflüssen mitgestaltet wurde, wird hier verdrängt. Sowohl innereuropäische Kriege, Konkurrenzen und Heterogenitäten als auch Unterdrückung, Ausgrenzung, Verfolgung, Vertreibung und Genozide werden ausgeblendet oder bagatellisiert.

Mit Blick auf dieses Erbe erhalten die hochgehaltenen „europäischen“ Werte der Gleichheit und Freiheit einen bitteren Beigeschmack – und das nicht erst seit den gegenwärtigen Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen Europas und im Mittelmeer. Der eigene Machtverlust, Wohlstandsüberfluss und die eigenen Verbrechen sind aber nicht die Themen der AfD und des RN, sondern sie nutzen ein idealisiertes und exkludierendes Bild von Europa als Legitimationsgrundlage für nationalistische und rassistische Ideologien.

Um sich politisch durchzusetzen, haben sie auch schon eine geeignete Plattform auf EU-Ebene gefunden: Im Frühjahr 2019 gründeten die rechten Nationalparteien aus Deutschland, Frankreich, Belgien, Dänemark, Österreich, Italien, Finnland, Estland und Tschechien die Fraktion „Identität und Demokratie“, um gemeinsam die „Umwälzung auf dem politischen Spielfeld in Europa“ zu bewirken, wie es Le Pen formuliert. Die Fraktion ist derzeit fünft stärkste Kraft im Europäischen Parlament – so finden rechte Parteien europaweit zunehmend zu einer gemeinsamen Sprache, die sie dazu befähigt, politisch Einfluss zu nehmen und andere Parteien herauszufordern. Gegen das Erstarken rechter Parteien formiert sich aber auch Widerstand: Das European Forum of Progressive Forces will etwa ein Bündnis für ein soziales und solidarisches Europa stärken und den wachsenden Bedrohungen durch rechte Ideologien entgegenwirken. Um nationalistisch-eurozentrische Ideologien auszuhebeln, bleibt die entschiedene Zurückweisung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit und die Hinwendung zur eigenen Verstrickung in solchen Ideologien ein notwendiger aber noch ausbleibender Schritt.

R.A.: Welche Unterschiede kann man zwischen den Diskursen der AfD und des RN sehen?

L. K: Unterschiede lassen sich vor allem in der Artikulationsweisen und der Themensetzung ausmachen: Während die AfD das „Feindbild Islam ins Zentrum ihrer Rhetorik stellt, spricht der RN primär vom „Volk“ und „den Franzosen“ – wobei das gleiche Feindbild implizit mitentworfen wird. Dass die nationalistischen Ideologien der AfD und des RN aus unterschiedlichen nationalen Bedingungen und Traditionen hervorgehen, wird an der Themensetzung deutlich: Der RN widmet sich neben Einwanderung explizit ökonomischen und sozialen Missständen und wirbt gezielt mit Sozialpolitik und linken Argumentationen wie „sozialer Gerechtigkeit“. Die AfD preist dagegen neoliberale und nationalkonservativ grundierte Gesellschafts- und Wirtschaftsvorstellungen an und umgeht Themen wie Armut und Wohlstand weitestgehend. In ihrem Fokus stehen Integration und „Leitkultur“. Doch trotz Unterschiede bekräftigt Le Pen, dass beide Parteien mehr verbindet als trennt.

Für weitere Analysen ist es relevant der Frage weiter nachzugehen, wie sich die lokalspezifischen Geschichts- und Erfahrungskontexte in Bezug auf Migration, Kolonialismus, Nationalsozialismus und Genozide wie auch das Verhältnis von Staat und Religion und die Rolle des Wohlfahrtsstaats sich auf die Themenschwerpunkte, Rhetorik und Diskurs-, Politik- und Bündnisfähigkeit rechter Parteien in Europa auswirken.

R.A.: Im Titel ihres Buches von 1988 verbinden É. Balibar und I. Wallenstein Rasse, Nation und soziale Schicht [Race, nation, classe, Übers. Michael Haupt, Ilse Utz: Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten. Argument, Hamburg 1990]. Der Begriff „Klasse“ scheint aber in den heutigen rechtsextremistischen Analysen und Lösungen fehlen.

L. K: Balibar und Wallenstein arbeiten in ihrem Buch den Zusammenhang zwischen „Rasse“, Rassismus und der Konstituierung von Klassen heraus. Die ökonomischen Verhältnisse spielen für die rechten Parteien eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das Problem ungleicher Klassenverhältnisse greift Le Pen auch explizit auf: Sie will soziale Gerechtigkeit und Wohlstand „für alle“ garantieren und schlägt hierfür „nationale Präferenz“, das heißt die Bevorzugung von „Franzosen“ auf dem Arbeitsmarkt, vor. Wenn der RN dann soziale Gerechtigkeit und Wohlstand mit Innerer Sicherheit verknüpft, stellt sich wieder die Frage, wer die „Franzosen“ sind und vor wem sie beschützt und bevorzugt werden müssen? Nach den Terroranschlägen in Frankreich 2015 und 2016 gilt das Bedrohungspotenzial durch Einwanderung und Islam zunehmend als plausibel: Statistiken zeigen, dass über zwei Drittel der französischen Bevölkerung der Ansicht sind, es lebten zu viele Immigrant*innen in Frankreich und der RN weise die größte Problemlösungskompetenz auf. Die klassenübergreifende Wähler*innenschaft des RN vereint schließlich die Formel „Franzose zu sein“. Eine Formel, die sich über soziale Fragen und Widersprüche in Bezug auf Armut und soziale Gerechtigkeit zu stellen vermag. Und auch wenn die AfD nicht sozioökonomische Fragen in den Mittelpunkt stellt, zeigen Wahlanalysen, dass Themen wie Einkommen, Rente, soziale Sicherheit und Bildung eine große Rolle in der Wahlentscheidung spielen. Die Wähler*innen sind bereit, ihre eigene Existenz auf Kosten Anderer zu sichern. So zeigt sich eindrücklich, dass „Rasse“, Klasse und Nation eng miteinander verwoben sind. Für ein breiteres Verständnis der Anschlussfähigkeit rechter Parteien sind dahingehend weitere Analysen durchaus relevant.

R.A.: Die Förderung der Frauenrechte und der Gleichberichtigung zwischen Männern und Frauen scheint ebenso nur ein Vorwand sein, um den Islam zu stigmatisieren, der als frauenfeindlich dargestellt wird. Sind die Frauenrechte nur ein Instrument gegen eine verworfene Kultur?

L. K: Frauenrechte und Geschlechtergerechtigkeit sind wichtige Themen unserer Gesellschaft. Interessanterweise behaupten beide Parteien, einer Kultur abzustammen, in der die Gleichberechtigung der Geschlechter schon lange Status quo sei. Statistiken zeigen allerdings, dass sowohl in Deutschland als auch in Frankreich Gewalt gegen Frauen* weiterhin ein gesellschaftliches Problem sind. Das gleiche gilt für die geschlechtsspezifischen Lohnunterschiede und die allgemeine Diskriminierung von Frauen* auf dem Arbeitsmarkt. Vor diesem Hintergrund dient die idealisierte Darstellung der gleichgestellten Frau* zum Instrument der Stigmatisierung der Anderen beziehungsweise der Ablenkung vom Eigenen: Denn wenn ich ausschließlich andere für Sexismus verantwortlich und zur Quelle jeglicher (Gesellschafts-)Probleme mache, muss ich mich nicht meiner eigenen Verantwortung widmen. Und wieder gilt es, nicht zu übersehen, dass die Ethnisierung von geschlechtsbezogener Kriminalität, Gefahr und Unterdrückung auf gesellschaftlich tief verankerten und historisch weit zurückreichenden Diskursen basiert: Wenn der RN oder die AfD vor dem gefährlichen „muslimischen Mann“ warnen, vor dem „unsere freie und gleichgestellte Frau“ beschützt werden muss, dann knüpft es am sexualisierten Bild über die unterdrückte „orientalische Frau“ und die Angst vor dem „männlichen Islam“ an. Der Körper und die Rolle der weißen Frau werden für nationalistische Politik instrumentalisiert und müssen ungeachtet bestehender Ungleichheitsverhältnisse als Symbol der vermeintlich errungenen Freiheit und Gleichheit in unserer Gesellschaft herhalten.

R.A.: Wie interpretieren Sie die Situation in Frankreich um die Frage der Laïzität und des Schleiers, und die steigernde Verwirrung zwischen dem „espace public“ im Sinne des Gebietes des Staat, das neutral bleiben soll, und dem „espace public“ im Sinne eines gemeinsamen Raums, wie die Straßen, von dem immer mehr Menschen behaupten, dass er kein Ort der Sichtbarkeit der Religionen sein kann?

L. K: In Paris initiiert ein Politiker des RN ein Gesetzentwurf mit, das das Tragen des Kopftuches bei Schulausflügen verbieten soll, da es eine „Provokation“ darstelle. Während der Pariser Senat mehrheitlich für das Gesetz stimmt und der französische Bildungsminister Blanquer im gleichen Zuge das Kopftuch als per se „nicht wünschenswert“ erklärt, weist Präsident Macron den Gesetzentwurf entschieden zurück und warnt vor der Diskriminierung von Muslim*innen im öffentlichen Raum. Eine Umfrage zeigt aber, dass zwei Drittel der Franzosen ein solches Gesetz durchaus befürworten.

Die jüngste Debatte in Frankreich um das Tragen des Kopftuches im öffentlichem Räum muss ebenfalls machtkritisch auf seine historische Kontinuität betrachtet werden:

Der Islam repräsentiert historisch nicht nur einen Mangel (an Freiheit, Zivilisiertheit, Menschlichkeit, etc.), sondern wird zugleich einer doppelten Logik unterzogen: Im Bereich Religion wird der Islam als politische Ideologie diffamiert, im Kontext Säkularismus gilt er hingegen als hyperreligiös. So wird der Islam in Fragen nach der Trennung von Staat und Religion und der Definition des „Neutralen“ als gesondertes Problem verhandelt.

Neben der ambivalenten Einordnung des Islams muss hier der Blick auch auf die Frage nach dem „Recht auf Öffentlichkeit“ gerichtet werden: Was ist der öffentliche Raum, wer darf ihn mitgestalten, beanspruchen und regulieren und wer nicht? Die Mehrheit in Frankreich scheint ihre koloniale Expertise nicht aufgegeben zu haben: Was zur Kolonialzeit in den Kolonien an Verboten, Kontrollen und Segregation praktiziert wurde, wird heute im Inneren fortgeführt. Hier soll das das (vermeintlich) Differente aus der Sichtbarkeit, dem Öffentlichen und Gesellschaftlichen ins Private und Unsichtbare verdrängt werden. Die Frage, die sich weiter stellt, ist, ob sich irgendwann ein Status der Befriedigung und Beruhigung einstellen wird: Wann ist das „Unerwünschte“ ausreichend an den Rand gedrängt ist – und wie weit würde eine Gesellschaft dafür noch gehen?

Veröffentlichung:Keskinkılıç, Leoni (2018): Die »Europäisierung« rechter Nationalparteien. Der Front National, die Alternative für Deutschland und die Idee von Europa, in: Jacob Wunderwald, Lukas Boehnke, Malte Thran (Hg.): Rechtpopulismus im Fokus, Wiesbaden: S


[1] Professeure d’histoire-géographie Abibac au lycée Maurice Ravel de Paris.

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