Von Timo Bijelic
Eigentlich hat dieser Bericht keinen Platz in einer Revue über bikulturelle Studienerfahrungen, denn das erste Jahr meines binationalen Studiums in Frankreich war, auf vielen Ebenen, durch und durch französisch. Sicher, es gab am Anfang des Studienjahrs ein interkulturelles Training, mit Übersetzung und händchenhaltenden Pappfiguren sowie einem Austausch von Sprichwörtern, charmant genug für ein Segment bei Artes Karambolage, es gab einen wunderbaren Sprachunterricht, und einen eigenen Kurs, um sich mit dem Medienalltag und der politischen Kultur Frankreichs vertraut zu machen, und ja, der Studienzweig ist paritätisch aus Franzosen und Deutschen besetzt, wobei die Frankophilie die Liebe zum Deutschen wohl überwog.
Doch dies alles vermochte es nicht, das Urfranzösische meiner Erfahrung auch nur in Ansätzen zu mindern, und die Schuld dafür liegt bei der Institution, die mich in meinem ersten Jahr beherbergte: Science Po Lille. Das Prinzip der republikanischen Elitenbildung, dem Science Po sich verschrieben hat – die verschiedenen Science Po gelten im Allgemeinen als Grundschule der Eliteschule ENA, aus der bis jetzt einen großen Teil der Elite und alle Präsidenten gekommen sind – ist derartig einmalig, dass man als Deutscher, selbst mit französischen Wurzeln, gnadenlos integriert wird, mit allen Vor- und Nachteilen. Schnell muss man sich an die Starrheit gewöhnen, das Mittippen in den Vorlesungen, das elendige Schwammlernen, dass den Franzosen seit zwei Jahren eingebläut wird, und welches nur mühselig im Laufe des Jahres aufgegeben wird, die Hausaufgaben, die Anwesenheitspflicht, und, vielleicht am schlimmsten, das ständige Messen, der Drang nach la moyenne, wenn Science Po dies auch zu lockern versucht. Es kann in den ersten Wochen angsteinflößend und gängelnd sein, die Freiheit eines deutschen Studiums fehlt den handausgesuchten Franzosen. Die erste Landung Frankreich scheint dementsprechend wenig appetitlich, doch wenn man sie einmal verdaut hat, die Prinzipien versteht, und seinen eigenen Ansatz aus Deutschland anwendet, ein wenig freier, auf Verständnis gebaut, dann kombiniert sich Freiheit mit Rigueur, der Schlendrian, zu dem deutschen Unis einladen können, wird verhindert, Deadlines helfen, sich kaum zu verlieren. Ohne den französischen Druck entspannt sich auch das Lehrpersonal, und man taucht tief ein in ein weites Spektrum, von Wirtschaft über Geschichte bis Soziologie, welches in dieser Bandbreite der französischen Seele tief auf den Zahn fühlt. Auch erste, eigene interkulturelle Erfahrungen werden möglich, wenn man die Vorteile beider Lernsysteme kombiniert, freies Denken, aber in strenger, organisierter Form, und damit das Beste aus beiden Welten zieht. Wenn man an diesen Punkt angekommen ist, das französische Lehrpersonal durch rege Beteiligung auf seine Seite sieht, den Druck des Namens Science Po übersteht, wird das Studienjahr reich an Erfahrungen, und man lernt eben soviel über Frankreich selbst wie über die unterrichteten Materien.
Auch abseits der schulischen Aspekte ist dieses erste Jahr die volle Ladung Frankreich. Lille ist nicht bikulturell geprägt, kein Straßburg, Deutsch ist kaum vorhanden, Deutschland ein fernes Land, man ist französisch, und dies noch auf eine sehr eigene Art, nordfranzösisch – die Klischees aus erfolgreichen Komödien stimmen tatsächlich, wenn man sich auf die Wärme der Menschen bezieht, und das oft triste Wetter. Kommilitonen sind in der Mehrheit französisch, Jahre verpasster französischer Jugend lassen sich in Monaten aufholen, schnell versteht man den Anderen, und die enge Gruppe – nur 40 Personen beteiligen sich an diesem Studiengang – erzwingt bikulturelle Erlebnisse aller Art. Der französische Takt wird übernommen, und spätestens nach der ersten Verspätung, bei der man in der Bahn ein frisches Croissant herunterschlingen muss, ist man final angekommen.
Nein, dieser Kurs ist nicht per se bikulturell, sondern urfranzösich, doch genau richtig, wenn man auf eigenen Faust Bikulturelles schaffen will und zudem Frankreich kennenlernen möchte, sosehr, wie es sich oft selbst nicht kennt, akademisch, und ganz alltäglich. Es ist gelebte statt vorgegebenen Interkulturalität, gemachte statt nur gedachte, und zugleich selbst für Deutsch-Franzosen eine wundervolle Fremderfahrung.