Leoni Keskinkılıç ist Sozialwissenschaftlerin und Ethnologin. Sie arbeitet an der Humboldt-Universität zu Berlin und forscht zu sozialer Ungleichheit, Migration, Europäisierung, Grenzregime sowie Postkolonialer und Feministischer Theorie.
Entretien mené par Morwenna Coquelin[1]
Revue Abibac : Sie interessieren sich für die Diskurse
zweier rechtsextremistischer Parteien – der Alternative für Deutschland (AfD)
und des Rassemblement national (RN). Wie und warum sind Sie zu diesem Thema
gekommen?
L. K.: Seit die AfD nach ihrer
Gründung im Jahr 2013 zunehmend Wähler*innen für sich gewinnt und 2017 mit 12,6
Prozent in den Deutschen Bundestag einzog, machte sich in weiten Teilen der
Bevölkerung Entsetzen und Erstaunen breit: Wie ist das möglich? Als
Sozialwissenschaftlerin und Ethnologin beschäftige ich mich mit Fragen zur
Geschichte und Aktualität von Nation und Europa und welche Rolle Heterogenität
und Migration darin einnehmen. Im Zuge dieser Auseinandersetzung wollte ich der
Frage nachgehen, inwiefern es gar keine so große Überraschung ist, dass
Parteien, die stark vereinheitlichende und hierarchisierende Verständnisse von Kultur, Religion und Nation vertreten, Zuspruch erhalten. So stellte die
These auf, dass sowohl der RN als auch die AfD zunehmend gewählt werden und
politikfähig sind, da ihre parteipolitischen Perspektiven nicht
(ausschließlich) über rechte Randerzählungen artikuliert werden, sondern an
dominanten Sicht- und Denkweisen, die tief in der Gesellschaft verankert sind,
anknüpfen. Meine zweite These lautete, dass das Erstarken und die
Bündnisschließung rechter Nationalparteien die Normalisierung und Durchsetzung
nationalistischer Forderungen vorantreiben und das Feld des Sag- und Machbaren in ganz Europa auf
dramatische Weise verschieben.
Der Vergleich der AfD mit dem RN war
dann in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen ist der RN anders als die AfD
keine junge Partei, sondern wurde bereits 1972 gegründet und galt damals mit
offen antisemitischen, rassistischen Äußerungen und autoritären, nationalistischen Gesellschaftsbildern explizit als
rechtsextremistisch. Seit Marine Le Pen an
der Parteispitze ist, wird die Partei jedoch anschlussfähiger und ist ein ernstzunehmendes Beispiel dafür, wie sich eine
rechtsextreme Partei einen Weg vom Rand ins Zentrum der Politik zu bahnen
vermag. Der zweite interessante Aspekt ist die Kooperation zwischen der AfD und
dem RN: Beide Parteien sind Gründungsmitglied der EU-Fraktion „Identität und
Demokratie“ und unterstützen gegenseitig ihre politischen Visionen. Neben den
Fragen nach der Anschlussfähigkeit der Parteien auf nationaler Ebene, stellte
sich mir also auch die Frage, inwieweit eine „Europäisierung“ rechter
Nationalparteien stattfindet und welche Konsequenzen das für ihren
Handlungsspielraum hat. Es sind Fragen, die höchst relevant sind, gerade in
einer Zeit, in der oft mit Ohnmacht und Uneinigkeit dabei zugeschaut wird, wie
sich diese Parteien europaweit weiter etablieren.
R.A.: Die heutige Welt kennzeichnet sich durch die Macht der Bilder und
durch kurze, schlagende Formeln – Twitter und viele andere schnell lesbare und
leicht teilbare Medien. Das Storytelling prägt auch seit den 90er Jahren die
Kommunikation. Ihre Arbeit zeigt dagegen die Wichtigkeit, die Diskurse in einen
sozialen und politischen Kontext zu ordnen, sowohl als in die Geschichte der
politischen Themen und Wörter. Können Sie mehr darüber erklären, besonders für
unsere Schüler*innen, die künftige Wählerschaft, teilweise schon politisch
engagiert?
L. K : Medien wie Twitter
und Facebook sind wichtige Plattformen, um sich zu informieren, zu vernetzen,
zu solidarisieren oder Widerstand zu leisten. Gleichzeitig dürfen wir nicht
vergessen, dass die darin zirkulierenden Bilder und Wörter politische
Bedeutungen haben und unterschiedliche Effekte bewirken – je nachdem, wer es
verbreitet oder liest. Bilder und Wörter beeinflussen Wahrnehmungen,
Vorstellungen und Handlungen. Sie können nicht nur verletzen oder bestärken,
sondern auch Benachteiligung oder Bevorzugung schüren und Ungleichheit
erzeugen.
Wenn die AfD und der RN
beispielsweise Wahlslogans verbreiten wie „Mut zu
Deutschland!“ oder „Weder rechts noch links – französisch!“,
dann muss ich mir zum Beispiel als weiße
Französin oder Deutsche keine Sorgen machen, dass ich nicht dazugehöre.
Muslimischen Franzosen oder Deutschen stellt sich aber die Frage, welchen Platz
sie in diesem Frankreich oder Deutschland bekämen, in dem sie schon jetzt mit
Diskriminierung und Ausschluss zu kämpfen haben. Bilder und Wörter, die
Muslim*innen und andere nicht-weiße
Gesellschaftsmitglieder angreifen, können an den privilegierten Weißen leicht vorbeiziehen.
Vertreter*innen der Postkolonialen Theorie wie Edward Said, Stuart Hall und
Gayatri C. Spivak lehren uns dagegen, die Stimmen und Perspektiven der
Marginalisierten ins Zentrum zu setzen, um über ihr Wissen die Gesellschaft
verstehen zu lernen und Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu erkennen und zu
überwinden. Eine Gesellschaft der Gleichheit und Gleichberechtigung
mitzugestalten bedeutet also, eine Bereitschaft zu entwickeln, sich
kritisch mit Bildern und Wörtern und ihrem Verhältnis zu Macht und Gewalt
auseinanderzusetzen und rassistische Aussagen und Handlungen offen zu
verurteilen. Und auch wenn es manchmal gar nicht so
einfach erscheint, zu entschlüsseln, welche Bedeutung Wörter und Bilder
transportieren sind Bemühungen, dem auf die Spur zu gehen, von existenzieller
Bedeutung.
R.A.: Obwohl man
spontan denken könnte, dass „Europa“ den nationalistischen Diskurs eher
widerspricht, zeigen Sie, dass dieser Begriff mehr und mehr auf das Spiel
gestellt wird. Wie nehmen Parteien wie die AfD oder der RN „Europa“ in
Beschlag? Wie verbinden sie „Europa“ und „Nation“?
L. K: Die Nation
steht klar im Vordergrund. Dennoch bekräftigen beide Partien, nicht
„anti-europäisch“ zu denken. Le Pen erklärt etwa: „Ich bin Europäerin, ich
glaube an […] ein Europa der Kooperation, das des Airbus und der Ariane“.
Beide Parteien befürworten eine „partnerschaftliche
Zusammenarbeit“, wenn um wohlstands- und wachstumsversprechenden Projekte geht. Sie sprechen sich aber gegen eine die Nation ersetzende europäische
Identität aus.
Kultur,
Sprache und Identität sollen „nationale Angelegenheit“ bleiben. Schauen wir
aber genauer hin, stellt Europa als „Ideengemeinschaft“ durchaus einen signifikanten Referenzpunkt für ihre Kultur- und
Identitätskonstruktionen dar: Sie berufen sich einerseits auf die „europäische Moderne“
und „zivilisatorischen Errungenschaften“, die Freiheit und Gleichheit
hervorbrächten, und andererseits auf das Ende von Unfreiheit, Ungleichheit und
Sklaverei, das das Resultat der „christlich-humanistischen Kultur der
europäischen Völker“ sei, so die AfD in ihrem Wahlprogramm 2017. Und eben diese
„europäischen“ Werte befinden sich laut AfD und RN heute in der Krise, bedroht
durch Islam und Einwanderung. Um die Gefahren ‚von
außen’ zu bekämpfen, fordern sie den Wiederaufbau von nationalen
Grenzkontrollen, die drastische Einschränkung von Einwanderung und
Staatsbürgerschaftsvergabe und die Ausweitung von Verboten, Kontrollen und
Strafen – und das auf nationaler Ebene, aber europaweit.
Beide Parteien sichern und begrenzen
also ihre nationalen „Identifikationsräume“ und ordnen sich zugleich in ein
Narrativ des Europäischen ein. Sie beanspruchen, eine „Zivilisationsgeschichte“
zu repräsentieren, mit der sie ihre angestrebte kulturelle und politische
Dominanz zu rechtfertigen versuchen.
R.A.: Was meint
„Europa“ für diese Parteien? Welches „Europa“ bilden ihre Diskurse? Nützen sie
diesen Begriff nur, um „die Anderen“ – momentan meistens die Muslim*innen – zu
stigmatisieren?
L. K: Aus den
Diskursen der AfD und des RN resultieren zwei wesentliche Bilder: Zum einen das
Feindbild Islam und zum anderen das
Idealbild Europa. Beide sind tief in
historisch tradierten Wissensbeständen verankert.
Die Sozialpädagogin
Iman Attia zeigt etwa in ihrem Buch „Die ‚westliche
Kultur‘ und ihr Anderes“, dass sich Darstellungen des Islams als
Bedrohung der Sicherheit und Kultur Europas an orientalistischen und
antimuslimischen Bildern bedienen, die in die Zeit des Kolonialismus
zurückgehen. Solche rassistischen Bilder werden von der AfD und dem RN genutzt
und so kulturell und religiös umgedeutet, dass Stigmatisierungen
und Ausschlüsse von Muslim*innen legitim und normal erscheinen.
Dieses Europa erzeugt aber nicht nur
Ab- und Ausgrenzungen, denn im Spiegel von Fremd- und Feindbildern zeigt sich
auch ein bestimmtes Selbstbild: Der Philosoph David T. Goldberg skizziert in
seinem Aufsatz Racial Europeanization, wie die im Kolonialismus verstrickten
Europäisierungsprozesse den „Europäer“ als weiß
und christlich erzeugten und den „europäischen Bürger“ per se als aufgeklärt,
human, tolerant, Gleichheits- und Freiheitsstrebend definierten. Im gleichen
Zuge entwickelte sich die Vorstellung,
dass diese Entwicklung vom „Rest“ der Welt abgekoppelt und Europa das alleinige Zentrum des Denkens und
Handelns sei. Eine Ideologie, die auch als Eurozentrismus bezeichnet wird. Wenn
die AfD und der RN von den „europäischen Völkern“ und ihrer „unveränderlichen Substanz“ sprechen, verbergen sich dahinter eben solche
rassistischen und eurozentrischen Ideologien.
Beide Parteien unternehmen den Versuch,
sich in eine Geschichte der „Expansion“ und „Entdeckung der Welt“
einzuschreiben, in der sie sich als Heimat der „Überlegenen“, „Retter“,
„Erfinder“ und „Sieger“ der Welt quasi wiederentdecken. Hierbei ist auch auf
das ambivalente Verhältnis der AfD und des RN zum Judentum und zur Erinnerung
an den Holocaust hinzuweisen: Denn aus der Sicht
beider Parteien nehmen das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus und
des Holocausts zu viel Raum in der nationalen Erinnerungskultur ein. Positive
Referenzpunkte in der Geschichte würden in den Hintergrund gedrängt. Einen
solchen Lichtblick finden sie wohl aber in der „europäischen Meistererzählung“ vom Fortschritt und Humanismus, die sich an Stärke und Macht orientiert.
Um ein solches ideologisch aufgeladenes
Bild von Europa aufrechtzuerhalten, bedarf es wiederum impliziten und
expliziten Abgrenzungen. Denn Selbst- und Fremdbild sind zutiefst voneinander
abhängig: Wer ist also nicht
Europäer*in und was ist nicht
europäisch? Die Fremd- und Feindbilder des RN und
der AfD sind flexibel und existieren gleichzeitig: Beide Parteien kulturalisieren, ethnisieren und nationalisieren Zugehörigkeit und
europäisieren Werte wie Freiheit und Gleichheit auf eine Weise, dass jeglichen
nicht-weißen Gesellschaftsmitgliedern
wie Muslim*innen, Schwarzen, Rom*nja und Sinte*zza, Juden und Jüdinnen, keine
„natürliche“ Daseinsberechtigung zukommt. Dieses Europa
basiert auf einer rassifizierenden Logik, nach der Menschen aufgrund zugeschriebener kultureller und/oder religiöser Merkmale
in Gruppen zusammengefasst, als nicht zugehörig erklärt und ausgeschlossen
werden.
Schließlich beschwören der RN und die
AfD ein Europa herauf, das durch Auslassungen und
Abstraktionen auf einen einzigen Erzählstrang reduziert wird, der den Maßstab
und die Bedingung von Zugehörigkeit, Kultur und Identität setzt. Dieses Europanarrativ ist insofern idealisierend und romantisierend, als
dass jegliche Gewalt- und Ungleichheitsverhältnisse,
migrantische Mitgestaltung, Kämpfe, Widerstände und Transformationskräfte der
Vergangenheit und Gegenwart unsichtbar gemacht werden: Es verschleiert die Verbrechen Europas, die seit Beginn des
Kolonialismus, des Imperialismus und der christlich motivierten
Zivilisierungsmission die globale Ordnung prägen. Nicht erzählt wird, dass die
europäischen Kolonialmächte über Jahrhunderte systematisch zahlreiche
außereuropäische Gebiete besetzt, Menschen rassifiziert, unterdrückt,
versklavt, ausgebeutet und ermordet haben und dass die Kirche eng mit der Kolonialmacht zusammenarbeitete. Auch die Tatsache, dass Europa immer
schon durch Migration geprägt und von globalen Einflüssen
mitgestaltet wurde, wird hier verdrängt. Sowohl innereuropäische Kriege,
Konkurrenzen und Heterogenitäten als auch Unterdrückung, Ausgrenzung,
Verfolgung, Vertreibung und Genozide werden ausgeblendet oder bagatellisiert.
Mit Blick auf dieses Erbe erhalten die
hochgehaltenen „europäischen“ Werte der Gleichheit und Freiheit einen bitteren
Beigeschmack – und das nicht erst seit den gegenwärtigen Menschenrechtsverletzungen
an den Grenzen Europas und im Mittelmeer. Der eigene Machtverlust, Wohlstandsüberfluss
und die eigenen Verbrechen sind aber
nicht die Themen der AfD und des RN, sondern sie nutzen ein idealisiertes und
exkludierendes Bild von Europa als Legitimationsgrundlage für nationalistische
und rassistische Ideologien.
Um sich politisch
durchzusetzen, haben sie auch schon eine geeignete Plattform auf EU-Ebene
gefunden: Im Frühjahr 2019 gründeten die rechten Nationalparteien aus
Deutschland, Frankreich, Belgien, Dänemark, Österreich, Italien, Finnland,
Estland und Tschechien die Fraktion „Identität und Demokratie“, um gemeinsam
die „Umwälzung auf
dem politischen Spielfeld in Europa“ zu bewirken, wie es Le Pen formuliert. Die Fraktion ist derzeit fünft
stärkste Kraft im Europäischen Parlament – so finden rechte Parteien
europaweit zunehmend zu einer gemeinsamen Sprache, die sie dazu befähigt,
politisch Einfluss zu nehmen und andere Parteien herauszufordern. Gegen das
Erstarken rechter Parteien formiert sich aber auch Widerstand: Das European
Forum of Progressive Forces will etwa ein Bündnis für ein soziales und
solidarisches Europa stärken und den wachsenden Bedrohungen durch rechte
Ideologien entgegenwirken. Um
nationalistisch-eurozentrische Ideologien auszuhebeln, bleibt die entschiedene
Zurückweisung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit und die Hinwendung zur eigenen Verstrickung in solchen
Ideologien ein notwendiger aber noch ausbleibender Schritt.
R.A.: Welche Unterschiede kann man zwischen den Diskursen
der AfD und des RN sehen?
L. K: Unterschiede
lassen sich vor allem in der Artikulationsweisen und der Themensetzung
ausmachen: Während die AfD das
„Feindbild Islam“ ins Zentrum ihrer
Rhetorik stellt, spricht der RN primär vom „Volk“ und „den Franzosen“ – wobei
das gleiche Feindbild implizit mitentworfen wird. Dass die
nationalistischen Ideologien der AfD und des RN aus unterschiedlichen
nationalen Bedingungen und Traditionen hervorgehen, wird an der Themensetzung
deutlich: Der RN widmet sich neben Einwanderung explizit
ökonomischen und sozialen Missständen und wirbt gezielt mit Sozialpolitik und
linken Argumentationen wie „sozialer Gerechtigkeit“. Die AfD preist dagegen
neoliberale und nationalkonservativ grundierte Gesellschafts- und
Wirtschaftsvorstellungen an und umgeht Themen wie Armut und Wohlstand
weitestgehend. In ihrem Fokus stehen Integration und „Leitkultur“. Doch trotz
Unterschiede bekräftigt Le Pen, dass beide Parteien mehr
verbindet als trennt.
Für weitere Analysen ist es relevant
der Frage weiter nachzugehen, wie sich die lokalspezifischen Geschichts- und
Erfahrungskontexte in Bezug auf Migration, Kolonialismus, Nationalsozialismus
und Genozide wie auch das Verhältnis von Staat und
Religion und die Rolle des Wohlfahrtsstaats sich auf die
Themenschwerpunkte, Rhetorik und Diskurs-, Politik- und Bündnisfähigkeit
rechter Parteien in Europa auswirken.
R.A.: Im Titel ihres Buches von 1988 verbinden É. Balibar
und I. Wallenstein Rasse, Nation und soziale Schicht [Race, nation, classe,
Übers. Michael Haupt, Ilse Utz: Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten.
Argument, Hamburg 1990]. Der Begriff „Klasse“ scheint aber in den heutigen
rechtsextremistischen Analysen und Lösungen fehlen.
L. K: Balibar und
Wallenstein arbeiten in ihrem Buch den Zusammenhang zwischen „Rasse“, Rassismus
und der Konstituierung von Klassen heraus. Die ökonomischen Verhältnisse
spielen für die rechten Parteien eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das
Problem ungleicher Klassenverhältnisse greift Le Pen auch explizit auf: Sie will soziale Gerechtigkeit und Wohlstand „für alle“
garantieren und schlägt hierfür „nationale Präferenz“, das heißt die Bevorzugung
von „Franzosen“ auf dem Arbeitsmarkt, vor. Wenn der RN dann soziale Gerechtigkeit und Wohlstand mit Innerer Sicherheit verknüpft, stellt sich wieder die Frage, wer die
„Franzosen“ sind und vor wem sie beschützt und bevorzugt werden müssen? Nach
den Terroranschlägen in Frankreich 2015 und 2016 gilt das Bedrohungspotenzial
durch Einwanderung und Islam zunehmend als plausibel: Statistiken zeigen, dass über zwei Drittel der französischen Bevölkerung
der Ansicht sind, es lebten zu viele Immigrant*innen in Frankreich und der RN weise die größte Problemlösungskompetenz auf. Die
klassenübergreifende Wähler*innenschaft des RN vereint schließlich die Formel „Franzose zu sein“. Eine Formel, die sich über soziale
Fragen und Widersprüche in Bezug auf Armut und soziale Gerechtigkeit zu stellen
vermag. Und auch wenn die AfD nicht sozioökonomische Fragen in den Mittelpunkt
stellt, zeigen Wahlanalysen, dass Themen wie Einkommen,
Rente, soziale Sicherheit und Bildung eine große Rolle in der Wahlentscheidung
spielen. Die Wähler*innen sind bereit, ihre eigene Existenz auf Kosten Anderer zu sichern. So zeigt sich
eindrücklich, dass „Rasse“, Klasse und Nation eng miteinander verwoben sind.
Für ein breiteres Verständnis der Anschlussfähigkeit rechter Parteien sind
dahingehend weitere Analysen durchaus relevant.
R.A.: Die Förderung der Frauenrechte und der
Gleichberichtigung zwischen Männern und Frauen scheint ebenso nur ein Vorwand
sein, um den Islam zu stigmatisieren, der als frauenfeindlich dargestellt wird.
Sind die Frauenrechte nur ein Instrument gegen eine verworfene Kultur?
L. K: Frauenrechte und
Geschlechtergerechtigkeit sind wichtige Themen unserer Gesellschaft.
Interessanterweise behaupten beide Parteien, einer Kultur abzustammen, in der
die Gleichberechtigung der Geschlechter schon lange Status quo sei. Statistiken
zeigen allerdings, dass sowohl in Deutschland als auch in Frankreich Gewalt
gegen Frauen* weiterhin ein gesellschaftliches Problem sind. Das gleiche gilt
für die geschlechtsspezifischen Lohnunterschiede und die allgemeine
Diskriminierung von Frauen* auf dem Arbeitsmarkt. Vor diesem Hintergrund dient
die idealisierte Darstellung der gleichgestellten Frau* zum Instrument der
Stigmatisierung der Anderen
beziehungsweise der Ablenkung vom Eigenen:
Denn wenn ich ausschließlich andere für Sexismus verantwortlich und zur Quelle jeglicher (Gesellschafts-)Probleme mache, muss ich mich
nicht meiner eigenen Verantwortung widmen. Und wieder gilt es, nicht zu
übersehen, dass die Ethnisierung von geschlechtsbezogener Kriminalität, Gefahr und Unterdrückung auf
gesellschaftlich tief verankerten und historisch weit zurückreichenden Diskursen
basiert: Wenn der RN oder die AfD vor dem
gefährlichen „muslimischen Mann“ warnen, vor dem „unsere freie und
gleichgestellte Frau“ beschützt werden muss, dann knüpft es am sexualisierten Bild über die unterdrückte „orientalische Frau“ und die
Angst vor dem „männlichen Islam“ an. Der Körper und die Rolle der weißen Frau werden für nationalistische Politik instrumentalisiert und müssen ungeachtet bestehender
Ungleichheitsverhältnisse als Symbol der vermeintlich errungenen Freiheit und
Gleichheit in unserer Gesellschaft herhalten.
R.A.: Wie interpretieren Sie die Situation in Frankreich
um die Frage der Laïzität und des Schleiers, und die steigernde Verwirrung
zwischen dem „espace public“ im Sinne des Gebietes des Staat, das neutral
bleiben soll, und dem „espace public“ im Sinne eines gemeinsamen Raums, wie die
Straßen, von dem immer mehr Menschen behaupten, dass er kein Ort der
Sichtbarkeit der Religionen sein kann?
L. K:
In Paris initiiert ein Politiker des RN ein Gesetzentwurf mit,
das das Tragen des Kopftuches bei Schulausflügen verbieten soll, da es eine
„Provokation“ darstelle. Während der Pariser Senat mehrheitlich für das Gesetz
stimmt und der französische Bildungsminister Blanquer im gleichen Zuge das
Kopftuch als per se „nicht wünschenswert“ erklärt, weist Präsident Macron den
Gesetzentwurf entschieden zurück und warnt vor der Diskriminierung von
Muslim*innen im öffentlichen Raum. Eine Umfrage zeigt aber, dass zwei Drittel
der Franzosen ein solches Gesetz durchaus befürworten.
Die jüngste Debatte in Frankreich um das
Tragen des Kopftuches im öffentlichem Räum muss ebenfalls
machtkritisch auf seine historische Kontinuität betrachtet werden:
Der Islam repräsentiert historisch
nicht nur einen Mangel (an Freiheit, Zivilisiertheit, Menschlichkeit, etc.),
sondern wird zugleich einer doppelten Logik unterzogen: Im Bereich Religion
wird der Islam als politische Ideologie diffamiert, im Kontext Säkularismus
gilt er hingegen als hyperreligiös. So wird der Islam in Fragen nach der Trennung von Staat und Religion und der Definition des „Neutralen“ als
gesondertes Problem verhandelt.
Neben der ambivalenten
Einordnung des Islams muss hier der Blick auch auf die Frage nach dem „Recht
auf Öffentlichkeit“ gerichtet werden: Was ist der öffentliche Raum, wer darf
ihn mitgestalten, beanspruchen und regulieren und wer nicht? Die Mehrheit in
Frankreich scheint ihre koloniale Expertise nicht aufgegeben zu haben: Was zur
Kolonialzeit in den Kolonien an Verboten, Kontrollen und Segregation
praktiziert wurde, wird heute im Inneren fortgeführt. Hier soll das das
(vermeintlich) Differente aus der Sichtbarkeit, dem Öffentlichen und
Gesellschaftlichen ins Private und Unsichtbare verdrängt werden. Die Frage, die
sich weiter stellt, ist, ob sich irgendwann ein Status der Befriedigung und Beruhigung einstellen
wird: Wann ist das „Unerwünschte“ ausreichend an den Rand gedrängt ist – und
wie weit würde eine Gesellschaft dafür noch gehen?
Veröffentlichung:Keskinkılıç, Leoni (2018): Die
»Europäisierung« rechter Nationalparteien. Der Front National, die Alternative
für Deutschland und die Idee von Europa, in: Jacob Wunderwald, Lukas Boehnke,
Malte Thran (Hg.): Rechtpopulismus im Fokus,
Wiesbaden: S
[1] Professeure
d’histoire-géographie Abibac au lycée Maurice Ravel de Paris.